Interview VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT
"Die Schäden aufgrund von Sturm und Hagel bei am Boden stehenden Flugzeugen haben deutlich zugenommen."
Einschätzungen zum Luftfahrtversicherungsmarkt aus Sicht von Delvag und Albatros

von Tobias Daniel, VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT, April/Mai 2023

VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT: Wie bewerten Sie die aktuelle Situation auf dem Luftfahrt-Markt allgemein und auf dem Versicherungsmarkt für Flugzeuge im speziellen?

Martin Gary, Managing Director


MARTIN GARY: Nach Auslaufen der meisten Reisebeschränkungen kehrt der Flugverkehr in fast allen Regionen der Welt in den nächsten Monaten voraussichtlich wieder auf das Vorkrisenniveau zurück bzw. hat es in einzelnen Regionen bereits wieder erreicht. Die Internationale Zivilluftfahrtorganisation ICAO prognostiziert deutlich wachsende Passagierzahlen bereits im Jahr 2023 und spricht von einer „vollständigen und nachhaltigen Erholung“ des Fluggastverkehrs. Sie führt die rasche Erholung nach der Corona-Pandemie vor allem auf die Wiederaufnahme internationaler Flüge und einem Nachholbedarf an touristischen Reisen zurück.  

Der Luftfahrtversicherungsmarkt befindet sich aktuell in einer recht dynamischen und gleichzeitig von Unsicherheiten geprägten Phase: Während der Pandemie hatten die Versicherer einerseits mit reduzierten Prämieneinnahmen zu kämpfen und sahen sich andererseits mit einer veränderten Risikolandschaft konfrontiert, da weltweit ein Großteil der Flugzeugflotten an einzelnen Flughäfen geparkt und daher beispielsweise deutlich stärker Einflüssen bzw. Gefahren aus Naturereignissen ausgesetzt waren. Im Zuge des Wiederhochfahrens des Flugbetriebes hatten die Versicherer dann mit Risiken umzugehen, die sich aus Engpässen in der Infrastruktur ergeben haben. Viele von uns haben sicherlich als Passagiere im letzten Sommer selbst erfahren müssen, mit welchen Herausforderungen die Wiederaufnahme des Flugbetriebes für die Luftfahrtindustrie verbunden war – hieraus resultierten freilich auch für die Luftfahrtversicherer entsprechende Risiken.
Dies betrifft auch die Luftfahrt Rückversicherer, deren Erstversicherungskunden diese Auswirkungen in Form von steigenden Rückversicherungskosten, geringerem Deckungsumfang oder reduzierten Kapazitäten zu spüren bekommen – insbesondere im Markt für Kriegsrisikodeckungen. Der hieraus entstehende Dominoeffekt erreicht dann wiederum auch die Kunden der Luftfahrtindustrie. Zusätzliche Fokusthemen der Luftfahrtversicherer sind die allgegenwärtige Inflation und Lieferkettenschwierigkeiten unter anderem bei der Ersatzteilversorgung, die sich in steigenden Reparaturkosten von Flugzeugen widerspiegeln. 

Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich der Luftfahrtversicherungsmarkt zurzeit in einem Spannungsdreieck aus pandemiebedingten Einflüssen, den globalen Auswirkungen des Ukraine-Krieges und einer sich verändernden Risikolandschaft befindet. Dies sind alles Themen, die sich überschneiden oder gar gegenseitig beeinflussen, was den Umgang mit ihnen umso herausfordernder macht.


VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT: Welche konkreten Folgen sehen Sie zum einen durch die Pandemie sowie zum anderen durch den aktuellen Krieg in der Ukraine?

Florian Pawelzick, Senior Director
Aviation Insurance


FLORIAN PAWELZICK: 
Wir sehen hier verschiedene Folgen und Einflussfaktoren: 
Nach dem Einmarsch von Russland in die Ukraine und der damit verbundenen Luftraumsperrung über der Ukraine haben es einige Luftfahrzeugbetreiber nicht mehr geschafft, ihre Flugzeuge außer Landes zu fliegen. Diese Flugzeuge sind heute weitgehend zerstört, beschädigt oder zumindest ist deren Zustand ungewiss und die Lufttauglichkeit fraglich. Dies führt für die Luftfahrzeug-Kriegsversicherer zu einer Schadenbelastung, die das jährliche Prämieneinkommen in dieser Sparte übersteigen dürfte. Noch schwerer lastet auf dem Markt aber das schwebende Damoklesschwert von hunderten von Flugzeugen, Triebwerken und anderen Luftfahrzeugteilen, die von westlichen Leasinggesellschaften an russische Airlines verleast worden sind und die aufgrund der von Russland verhängten Ausfuhrverbote aktuell nicht wieder an ihre rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben werden können. Wir sprechen hier in Summe über zweistellige Milliarden US-Dollarbeträge und es sind weltweit bereits diverse Gerichtsverfahren im Gange, die sich mit der Frage des Versicherungsschutzes beschäftigen. Sollten sich diese Fälle für die Versicherer auch nur in Teilen realisieren, so könnte dies aufgrund der enormen Schadenhöhe zu weitreichenden Verwerfungen im Markt führen.

Indirekt wirkt der Krieg – genau wie die Pandemie - jedoch auch auf die bereits genannten Faktoren Inflation und Lieferkettenengpässe, die sich sowohl für die Versicherer als auch für die Luftfahrtgesellschaften in steigenden Reparaturkosten und längeren Bodenzeiten, in denen die Flugzeuge nicht genutzt werden können, bemerkbar machen.

Wenngleich die finanziellen Ergebnisse der Luftfahrtindustrie für 2022 darauf hindeuten, dass die Pandemie hinter uns liegt, so spüren wir auch heute noch deren Spätfolgen. Die gesamte Infrastruktur, inklusive Flughäfen, Luftraumsicherung und Bodendienstleistern, hat sich nicht in der gleichen Geschwindigkeit erholt wie die Nachfrage nach Flugtickets wieder gestiegen ist. Dies ist in erster Linie ein unternehmerisches Thema für die Luftverkehrsbranche, hieraus können sich jedoch auch Folgen für die Versicherer ergeben, z.B. wenn durch Unaufmerksamkeiten bei der Flugzeugabfertigung die Anzahl der Beschädigungen an den Luftfahrzeugen steigt. Darüber hinaus nehmen die Versicherer ein steigendes Schadenvolumen aus Naturereignissen wahr. Insbesondere die Schäden aufgrund von Sturm und Hagel bei am Boden stehenden Flugzeugen haben deutlich zugenommen. Dies ist durchaus als eine Spätfolge der Pandemie anzusehen, da die Airlines während der Hochzeiten von Corona gezwungen waren, den Großteil ihrer Flotten zu parken und auch heute noch nicht wieder alle Flugzeuge reaktiviert wurden.

 

VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT: Was bedeuten der Krieg in der Ukraine sowie die Luftraum-Sperrung über Russland für die Luftfahrt-Versicherer und die Delvag? Wie gehen Sie mit der neuen Risiko-Situation um?

Lorenz Hanelt, Vorstandsmitglied Delvag


LORENZ HANELT:
Die von Ihnen angesprochene De-facto-Luftraumsperrung für westliche Airlines ergibt sich in erster Linie aus den komplexen Sanktionsbestimmungen der EU, den USA und anderer nahestehender Partner. Tatsächlich ist der Luftraum über Russland jedoch zurzeit nicht gesperrt, sodass Airlines aus anderen Teilen der Welt, wie z.B. aus der Golfregion, China und Indien weiterhin nach Russland fliegen.
Die zusätzlichen Aufwände, die sich für westliche Airlines aus dem Umfliegen des russischen Luftraumes ergeben, sind jedoch weniger ein Thema für die Versicherer.
Die Auswirkungen, die der Krieg jedoch auf den im Markt erhältlichen Deckungsschutz der Kriegsversicherungspolicen hat, sind signifikant. Unsere Airline-Kunden erhalten deutlich weniger Versicherungsschutz für wesentlich mehr Prämie. In einem gewissem Umfang ist dies sicherlich nachvollziehbar und eine logische Konsequenz des Krieges, z.B. hinsichtlich Länderausschlüssen. Wichtig ist jedoch die Erarbeitung angemessener Lösungen, die nicht einfach das Risiko in die unternehmerische Sphäre der Luftverkehrsgesellschaften zurückschieben. Dies ist uns gemeinsam mit unseren Versicherungspartnern bislang gut gelungen.

Größere Sorge bereitet uns, dass die Versicherer sich mehr Optionen offenhalten, bestehende Versicherungsverträge auch unterjährig beendigen zu können. Auch dies erscheint aufgrund der aktuellen geopolitischen Spannungen nachvollziehbar, jedoch könnte bei einer Beendigung der Versicherungsverträge die Aufrechterhaltung des Flugbetriebes gefährdet sein - schließlich sprechen wir teilweise über Pflichtversicherungen, ohne die ein Flugzeug nicht abheben darf. Auch seitens der Delvag beobachten wir die Situation ganz genau, da das Zurverfügungstellen von Versicherungsschutz für bestimmte Risiken mit Russland-Bezug im Rahmen des genannten Sanktionsregimes nicht mehr zulässig ist. Dies erfordert ein sehr genaues Monitoring der gezeichneten Risiken und teilweise auch Anpassungen der Policenwordings.


VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT: Wie wirkt sich die aktuelle Inflation auf die Luftfahrversicherer aus? Und was bedeutet die aktuelle Entwicklung für die derzeitige Prämiengestaltung?

FLORIAN PAWELZICK:
Inflation ist natürlich auch ein Thema für die Luftfahrtversicherer. Einerseits scheint der Effekt auf der Schadenseite in Form von höheren Reparaturkosten und Ersatzteilpreisen zu spüren zu sein und andererseits kann die Inflation bei der Quantifizierung von Versicherungswerten sichtbar werden. Allerdings haben wir den Eindruck, dass die Inflation aktuell von einigen Versicherern als Rundumschlagargument verwendet wird, um Prämienanpassungen durchzusetzen. 
Wir betrachten das Thema Inflation indes etwas differenzierter. Schließlich sind wir es im internationalen Luftfahrtumfeld gewohnt, mit Veränderungen umzugehen – sei es in Form von höheren Haftpflichtentschädigungen aufgrund veränderter Rechtslage, Streitigkeiten vor US-Gerichten oder technischen Veränderungen im Flugzeugbau, die zu kostspieligeren Reparaturen führen. Wir sehen auch Gegenläufer, z.B. bei der Reduzierung der Versicherungswerte von Flugzeugmustern, die während der Pandemie oder im Zuge der ESG-Diskussion an Marktwert verloren haben. Entsprechende Tendenzen gilt es sicherlich auch bei der Prämiengestaltung zu berücksichtigen, jedoch sollten diese dann auch objektiv feststellbar sein und sich gegebenenfalls in angepassten Versicherungssummen niederschlagen. Sofern der Bedarf der Prämienanpassung ohne weitere Substanz mit dem allgegenwärtigen Argument der Inflation an uns herangetragen wird, so steigen wir gerne in die Diskussion mit unseren Versicherungspartnern ein.
 

VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT: Welche mittel- bis langfristigen Folgen sehen Sie für die Luftfahrt-Versicherer?

FLORIAN PAWELZICK:
Prämien und Deckungsumfänge werden sich über die Zeit immer anhand der zur Verfügung stehenden Kapazitäten anpassen und folgen daher dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. Eine Vorhersage dieser Entwicklungen wäre reine Spekulation. Wir interessieren uns daher mehr dafür, wie wir unsere Branche, Prozesse und Produkte kurz-, mittel- und langfristig positiv weiterentwickeln können. Zwei Beispiele hierzu:

  1. Wir haben während der Pandemie erlebt, dass beim langfristigen Parken von hunderten Flugzeugen mehrerer Airlines an einem einzigen Flughafen aus dem schnell zu bewegenden Objekt “Flugzeug” vorübergehend eine Art Immobilie wird, die eben nicht mehr schnell verlegt werden kann - auch nicht vor Naturgefahren, wie Sturm und Hagel. Dies ist keine überraschende Erkenntnis, jedoch erfordert eine solche Situation eine ganz andere Risikobewertung. Diese kann aber nur sachgerecht durchgeführt werden, wenn zu jeder Zeit vollumfängliche Klarheit über das jeweilige Risikoexposure besteht. Hierzu bedarf es einer Reihe an Echtzeit-Daten, die sinnvoll miteinander verknüpft werden müssen. Isoliert betrachtet sind die benötigten Daten allesamt vorhanden; es mangelt jedoch noch an der Verknüpfung sowie belastbaren Bewertungsmodellen im Hintergrund.
  2. Wir konnten im Zuge des Krieges in der Ukraine und der damit verbundenen Sanktionierung Russlands erkennen, dass sich die Identifikation, Aufnahme und Bewertung bestimmter Risiken durchaus recht aufwendig gestaltet – insbesondere, wenn aufgrund der Sanktionslage und der Kriegshandlungen kein oder nur eingeschränkter physischer Zugriff auf bestimmte Assets möglich ist. Auch hier können gut gepflegte und miteinander verknüpfte Daten helfen, blinde Flecken auf den Risikolandkarten der Versicherer sichtbar zu machen und somit eine proaktive Risikobewertung zu ermöglichen.

Aus solchen Erfahrungen und Erlebnissen lernen wir und sehen für die Zukunft eine wesentlich stärkere Rolle eines effektiven (Versicherungs)Risikomanagements und einer noch größeren Bedeutung der Nutzung von Daten für Produktgestaltung, Pricing und Prozesse. Eine solche Entwicklung würde sowohl die Versicherungsbranche als auch die versicherungsnehmende Industrie dabei unterstützen, Risiken besser zu identifizieren, diese zu verstehen und auch Entscheidungen im Umgang mit Risiken objektiver zu treffen.